Mia und Ben spürten den kalten Wind, noch bevor sie den Rand des Waldes erreichten. Die warmen, lebendigen Farben des magischen Waldes wichen nach und nach dem kühlen Weiss und Grau des Winters. Das sanfte Rauschen des Wasserfalls verblasste hinter ihnen, ersetzt durch die Stille des Schnees, der unter ihren Stiefeln knirschte. Sie drehten sich ein letztes Mal um und sahen, wie die Bäume des Waldes im goldenen Licht glühten, als ob sie sich von den beiden verabschieden wollten.
„Es fühlt sich an, als würden wir einen Traum verlassen“, sagte Mia leise, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
„Vielleicht“, antwortete Ben, während er den Atem sah, der in kleinen Wolken vor ihm aufstieg. „Aber es war echt. Und irgendwie fühlt es sich an, als wäre ein Stück von diesem Wald jetzt immer bei uns.“
Sie gingen weiter, ihre Schritte führten sie durch eine Landschaft, die gleichzeitig vertraut und fremd war. Der Weg stieg leicht an, die Bäume wurden spärlicher und der Himmel freier.
Der Schnee unter ihren Füssen knirschte, und die Luft war still, als ob die Welt den Atem anhielt. Sie spürten, dass sie ihrem Ziel nahe waren
Am höchsten Punkt angekommen, öffnete sich das Tal vor ihnen. Sie standen am Rand eines Hanges, und zu ihren Füssen breitete sich ihre Heimat aus. Vor ihnen lag eine weite Ebene, und in der Ferne erkannten sie ihr Heimatdorf. Die Dächer schimmerten im Abendlicht, und Rauch stieg sanft aus den Schornsteinen auf.
„Schau, Mia!“ Ben zeigte auf das Dorf, das wie ein winziges Modell aus Schnee und Stein tief unten im Tal lag. Die Dächer waren mit einer dicken Schicht Pulverschnee bedeckt, und aus den Schornsteinen stieg Rauch auf. Es war genau so, wie sie es in Erinnerung hatten – und doch fühlte es sich an, als hätten sie es seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.
Doch bevor sie den Abstieg beginnen konnten, erschien plötzlich eine riesige, durchscheinende Gestalt vor ihnen. Sie sah aus wie ein Wesen aus reinem Licht, und ihre Stimme klang wie ein Chor aus tausend Stimmen.
„Willkommen, Ben und Mia,“ sagte die Gestalt, und ihre Worte schienen direkt in ihren Herzen zu erklingen. „Ihr habt euren Weg bis hierher gefunden. Ihr habt geholfen, befreit, repariert, gegeben und verstanden. Doch bevor ihr zurückkehren könnt, gibt es eine letzte Aufgabe und Prüfung für euch.“
Die Gestalt hob ihre leuchtenden Arme, und vor den Kindern erschienen jeweils zwei schimmernde Kugeln, die in der Luft schwebten. Sie funkelten wie flüssiges Glas, und jede von ihnen enthielt eine Szene, die wie ein lebendes Bild darin spielte.
Mia trat einen Schritt näher an die erste Kugel heran. Darin sah sie ihr Heimatdorf, eingehüllt in warmes Licht. Sie erkannte ihre Familie und Freunde. Das Bild war voller Geborgenheit: Schneeflocken fielen sanft auf die Dächer, und drinnen flackerte das Feuer im Kamin. Es war das Zuhause, auf das sie sich so sehr freut.
Doch als ihr Blick zur zweiten Kugel glitt, hielt sie inne. Darin sah sie sich selbst in einer fremden Welt, wo sie unbekannten Menschen half. Sie baute Brücken, verband Leben, brachte Licht an Orte, die von Dunkelheit umgeben waren. Das Bild spiegelte etwas Tiefes in ihr wider – einen Traum, den sie bisher nur vage gekannt hatte. Es war die Sehnsucht, etwas Grösseres zu schaffen, als sie selbst war.
Auch Ben betrachtete die Kugeln vor ihm. In der ersten sah er sich daheim, umgeben von seiner Familie, gelöst und glücklich. Es war ein friedliches Leben voller Vertrautheit. Aber in der zweiten Kugel war er ein Anführer, der anderen Mut machte, sie leitete und inspirierte. Er sah sich stark und weise, aber auch gefordert. Das Bild berührte etwas in ihm, das er bisher nicht benennen konnte.
„Ihr müsst wählen,“ sagte die Gestalt erneut. „Welcher Weg ist der richtige für euch? Wohin führt euch euer Inneres?“
Ben und Mia sahen einander an, die Bedeutung dieser Entscheidung lastete schwer auf ihnen. Alles um sie herum schien still zu werden, nur die leuchtenden Kugeln und die Gestalt blieben in Bewegung.
Mia erinnerte sich an den Wasserfall, an die Worte der alten Eule: „Alles Licht gehört zusammen. Es wirkt gemeinsam.“ Sie dachte an die Bienen, die sie gerettet hatten, den Damm des Bibers, das Nest des Vogels – und daran, wie jede Tat ein Teil von etwas Grösserem war.
„Ich glaube nicht, dass es jetzt darum geht, sich für eines zu entscheiden,“ sagte sie schliesslich, ihre Stimme war ruhig, aber bestimmt. „Das Licht und das Gute, das wir gesehen haben, ist überall. Es spielt keine Rolle, ob wir zu Hause sind oder hinaus in die Welt gehen. Es ist in uns, egal, wo wir sind.“
Ben spürte, wie ihre Worte etwas in ihm auslösten. Er dachte an die Lichtkugel, die sie dem Wasser übergeben hatten, daran, wie sie sich in den Wasserfall aufgelöst hatte, um Teil von etwas Grösserem zu werden.
„Ja,“ sagte Ben schliesslich. „Wir müssen uns nicht entscheiden, weil beides Teil von uns ist. Wir können zu Hause sein und von dort aus wirken. Jede noch so kleine, gute Tat, jeder Tropfen, jedes Lächeln, jeder Funke zählt.“
Die Gestalt lächelte – ein Lächeln, das sie nicht sahen, sondern spürten. „Ihr habt die Wahrheit erkannt,“ sagte sie, und ihre Stimme klang wie ein warmer Wind. „Die Quelle der Erfüllung ist nicht auf einen Ort begrenzt. Sie lebt in euch, in allem, was ihr tut, und an jedem Ort, den ihr berührt.“
Die Kugeln begannen zu leuchten, heller und heller, bis sie schliesslich ineinander verschmolzen. Ein strahlender Stern stieg daraus auf und schoss in den Himmel, wo sich ein Funkenregen in alle Richtungen ausbreitete.
„Geht nun,“ sagte die Gestalt, ihre Form begann sich langsam aufzulösen. „Ihr habt alles was ihr braucht in euch. Viele werden euch künftig begleiten, mit euch den Weg gehen – und ihn erhellen.“
Die Gestalt verblasste, und die Kinder fanden sich allein auf dem Gipfel wieder. Der Wind wehte durch ihr Haar, und als sie in den Himmel blickten, war dieser voller Sterne.
Ben sah Mia an. „Bereit für den Abstieg?“
Sie lächelte und nickte. „Bereit. Lass uns nach Hause gehen.
Gemeinsam zogen sie ihrem Dorf entgegen, ihr Herz war leicht und voller Frieden.
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