Der Abstieg vom Grat war einfacher als erwartet. Der Wind hatte sich gelegt, und die goldene Kugel in Mias Tasche schien den Weg mit ihrem sanften Leuchten zu weisen. Ben und Mia fühlten sich erleichtert, doch die Ruhe war nur von kurzer Dauer. Bald führte der Pfad in ein tiefes Tal hinab, wo dichter Nebel zwischen den Bäumen hing.
„Ich glaube, das ist der Nebel, den wir von oben gesehen haben“, sagte Ben, als sie die ersten Schritte in die undurchdringliche Dunstschicht machten. „Ich mag das nicht.“
„Die Kugel hat uns bis hierhin geholfen“, sagte sie und hielt sie hoch. Das warme Licht der Kugel schnitt durch den Nebel und zeigte einen schmalen Weg vor ihnen.
„Na gut“, murmelte Ben.
Der Weg führte sie immer tiefer ins Tal, und die Luft wurde kühler. Plötzlich öffnete sich der Nebel, und sie standen vor einer riesigen Schlucht. Über der Schlucht hing eine schmale Brücke aus purem Eis, die in der Wintersonne schimmerte. Sie schien unglaublich fragil, als könnte sie bei der geringsten Berührung zerbrechen.
„Das ist doch nicht euer Ernst“, sagte Ben entsetzt. „Wir sollen da rüber?“
Mia war ebenfalls nervös, aber sie wusste, dass sie nicht umkehren konnten. Die goldene Kugel in ihrer Hand leuchtete jetzt heller und warf einen warmen Schein auf die glatte Oberfläche der Brücke. „Das ist der Weg“, sagte sie leise. „Wir müssen es versuchen.“
„Die Brücke sieht aus, als würde sie jeden Moment einstürzen“, protestierte Ben. „Ich… ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“
Mia sah ihn an. „Wir schaffen das zusammen, Ben. Denk daran, was Oma gesagt hat: Der Mut kommt, wenn wir den ersten Schritt machen.“
Ben zögerte, dann nickte er widerwillig. „Okay. Aber du gehst zuerst.“
Mia atmete tief durch und setzte vorsichtig einen Fuß auf die Brücke. Das Eis knirschte leise, hielt aber stand. Mit klopfendem Herzen machte sie den nächsten Schritt und dann noch einen. Der Wind pfiff durch die Schlucht und brachte die Brücke leicht zum Schwingen, aber Mia blieb ruhig. „Es geht“, rief sie zurück. „Komm, Ben!“
Ben schluckte schwer, doch er folgte ihr. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde er auf dünnem Glas laufen. Seine Hände zitterten und seine Knie waren weich.
„Nicht nach unten schauen“, murmelte er zu sich selbst und richtete den Blick auf Mia, die einige Schritte vor ihm war. „Nicht nach unten schauen…“
Plötzlich hallte ein lautes Krachen durch die Luft. Die Brücke vibrierte unter ihren Füßen, und ein Teil des Eises brach hinter Ben ab und stürzte in die Tiefe. Ben hielt inne, sein Atem stockte.
„Beeil dich, Ben!“ rief Mia, ihre Stimme zitterte vor Angst. „Die Brücke hält nicht mehr lange!“
Ben wollte sich bewegen, aber seine Beine fühlten sich wie festgefroren an. Der Abgrund unter ihm schien ihn zu rufen, und die Angst packte ihn mit eisigen Klauen. „Ich… ich kann nicht!“
Mia wusste, dass sie etwas tun musste. Sie drehte sich um und hielt die goldene Kugel hoch. Ihr Licht wurde intensiver, fast als ob es Ben beruhigen wollte. „Du kannst das, Ben! Vertraue dir selbst! Die Kugel hat uns bis hierher geführt, und sie lässt uns nicht im Stich. Aber du musst den nächsten Schritt machen.“
Ben schloss die Augen und atmete tief durch. Er dachte an Mias Worte, an die Ermutigung der Großmutter, und an den Wunsch, den er bei der Begegnung mit dem Wächter ausgesprochen hatte: mutig zu sein. „Okay“, flüsterte er, öffnete die Augen und machte den nächsten Schritt.
Die Brücke knirschte, aber sie hielt. Schritt für Schritt folgte er Mia, und schließlich erreichte er das Ende der Brücke. Kaum hatten sie den sicheren Boden erreicht, brach die Brücke hinter ihnen mit einem lauten Donnern zusammen und verschwand im Nebel.
Ben ließ sich erschöpft in den Schnee fallen. „Das war… das war das Gruseligste, was ich je gemacht habe.“
Mia kniete sich neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Aber du hast es geschafft. Siehst du? Du bist mutiger, als du denkst.“
Ben schaute sie an und konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. „Danke, Mia. Ohne dich hätte ich das nie geschafft.“
Vor ihnen öffnete sich der Pfad, der aus dem Nebel heraus in einen friedlichen, sonnendurchfluteten Wald führte. Die goldene Kugel in Mias Tasche glühte noch immer, als ob sie ihnen gratulieren wollte.
„Wir haben ein großes Hindernis überwunden“, sagte Mia, als sie sich erhoben und weiter gingen. „Aber ich glaube, es werden noch mehr kommen.“
Ben nickte. „Vielleicht. Aber jetzt weiß ich, dass wir es schaffen können – egal, was kommt.“
– Kreatoren: TEAM von PusteBirke.ch –